15.08.04

Erinnerungen

Wien ist voller Erinnerungen. Häuser, Plätze, ganze Bezirke, bestimmte Strassenbahnlinien, Gerüche – an all diesen Dingen hängen Ereignisse, Personen, Situationen und Gefühle. Längst vergessene Situationen, Personen an die man viel zu selten denkt. Ich liebe es, ziellos mit der Straßenbahn durch Wien zu fahren, oder mit dem Auto, und die Blitzlichter einzufangen, die ganz plötzlich längst vergangene Ereignisse an die Oberfläche bringen. So ist es wohl, wenn man an einen Ort zurückkommt, an dem man lange gelebt hat.

Jedes Mal, wenn ich am Wiener Rathaus vorbeifahre, denke ich an dieses mexikanische Restaurant, das es dort vor vielen Jahren gab, Anfang der Achtziger Jahre. Es war das erste mexikanische Restaurant das ich kannte und es war ganz anders als die anderen Lokale zu dieser Zeit. Die Möbel waren bunt, die Wände hellbraun und die Cocktails waren so teuer, dass wir sie uns nie und nimmer leisten konnten. Und es gab dort einen wunderschönen Kellner. Er war schwarz, hatte strahlende Augen, ein breites sympathisches Lächeln, und er war Amerikaner. Ein schwarzer Amerikaner, für uns der Inbegriff von Exotik. Dieser Amerikaner war der eigentliche Grund, warum wir so oft in dieses Restaurant gingen. Wir – das waren Peter und ich - und Peter war in diesen Kellner verliebt.

Peter war mein allerbester Freund. Es war die intensivste Freundschaft die ich je hatte – die Art von Freundschaft, die man nur mit 20 haben kann. Wo man 24 Stunden am Tag ununterbrochen miteinander verbringt, Nächte durchdiskutiert, die Liebesleiden des anderen kennt und das neu gewonnene Leben in der Freiheit ausprobiert. Wir sahen uns als Abenteurer der Großstadt. Wir wollten provozieren, erkunden und Spaß haben. Diesen Sprung, den man macht wenn man ein neues Leben beginnt, ein Leben nach der Schule, ein Leben außerhalb des viel zu eng gewordenen Elternhauses, diesen Sprung ins Unbekannte, den haben wir gemeinsam gemacht.

Es gibt in Wien unendlich viele Plätze, die mich an Peter erinnern. Der dritte Bezirk, wo er gewohnt hat, gleich gegenüber von so einem Branntweiner. Einer, der um 6:00 Uhr früh aufgemacht hat und um 18:00 zu, weil die Kunden da ohnehin schon komplett besoffen waren. Zu dem wir auch einmal gegangen sind um 10:00 vormittags und dann völlig betrunken auf dem Küchenboden in Peters Wohnung eingeschlafen sind. Oder die Arena, wo wir viele Konzerte gemeinsam gesehen haben. Das U4, wo er manchmal aufgelegt hat, und das Motto und das Europa, wo er bedient hat. An die Blue Box, wo ich bedient habe, und wo er mich oft abgeholt hat nach der Arbeit. Gemeinsam sind wir dann zur Horvath am Naschmarkt. Bei dieser taubstummen Wirtin gab’s die besten Schinkenstangerln in der Stadt. Frisch gebacken und geliefert um Punkt 5:30 in der früh wurden sie sowohl verzehrt von den Straßenarbeitern der Stadt Wien - zum Frühstück – als auch von den Nachtschwärmern und Barkeepern der Szene Wien - als letzter Snack vorm Schlafengehen.

Wenn ich am Naschmarkt bin, denke ich jedes Mal an eine sehr traurige Szene. Da traf ich ihn an einem kühlen Sommermorgen nach durchfeierter oder aber durcharbeiteter Nacht. Er hatte eines dieser Horvath-Schinkenstangerln in der Hand. Ich nahm es, biss hinein, und fragte: „Und, wie ist es ausgegangen?“. Es gab damals eine neue Krankheit. Schwulenkrebs, Todesherpes. Aus Amerika sollte sie kommen und vor allem in San Fransisco ihr Unwesen treiben. Ein paar Monate zuvor wurde in Wien die „Westside Story“ aufgeführt – oder war es „Cats“? Auf jeden Fall hatte Peter eine Affäre mit einem der Sänger. Dieser Sänger kam aus Amerika, und deshalb hat Peter sich testen lassen. „Ich bin positiv“ – relativ cool und fatalistisch kam diese Äußerung über seine Lippen. „Positiv? Iiih, und ich hab in dein Salzstangerl gebissen“. Es war der schlechteste Scherz meines Lebens, dumm dahingesagt, aber so machten wir eben unsere Scherze. Wie tief der Schock der positiven Diagnose in ihm saß, merkte ich an seiner Reaktion. Ein kleiner Blick auf den Boden, unendlich traurig, voller Angst. Eine Sekunde später dann wieder das spöttische Lächeln – „Komm, geh ma noch auf a Achterl“.

Diese Diagnose war das Ende der Unbeschwertheit. Es war das Ende der Jugend, der Abenteuer. Unsere Freundschaft ging natürlich weiter. Es war eine Freundschaft, die aufs Leben ausgelegt war. Aber das Leben bekam jetzt für ihn und für mich, wenn ich an ihn dachte, eine andere Qualität. Mit der Krankheit wich die unbeschwerte Fröhlichkeit - jeder Pickel, jeder Fußpilz, jede Grippe bekam eine neue Bedeutung. Jede potentielle Heilmethode war ein Strohhalm, an den man sich klammern wollte.

Steinhof.

Da haben sie ihn hingebracht als er schon sehr krank war und häufig die Orientierung verlor. Da habe ich ihn das letzte Mal besucht. Damals lebte ich bereits in Deutschland. 4 Monate zuvor war er uns noch bei uns. „Ich werde immer dümmer“ hat er gesagt. „Ich verliere meine intellektuellen Fähigkeiten, ich kann mir nichts mehr merken“. „Schmarrn“, habe ich gesagt – „redest doch ganz normal. Kannst dich noch erinnern, damals...". Wir gruben alte Geschichten aus, lachten viel, im Hintergrund immer der Schatten dieser dummen, unnötigen Viruserkrankung.

Er lag im Koma. Er wurde künstlich beatmet. Alle Leute, die ihn liebten, versuchten auf ihre Art ihm zu helfen. Seine Mutter hat ein kleines Holzkreuz über ihm aufgehängt und viel gebetet, sein Freund hatte eine homöopathische Therapie mit kleinen Kapseln aufgetan, die eventuell Erfolg haben könnte. Ich habe ihm die Hand gehalten, die Stirn berührt und gehofft und gewünscht, ihm irgendwie Kraft weitergeben zu können.

Alles hat nichts genützt. 3 Wochen später war er tot.

Als ich aus dieser Pulmologischen Klinik im schönen Steinhof rausging waren da unendlich viele Krähen. Ich habe noch nie so viele Krähen auf einmal gesehen.

Jedesmal wenn ich in Wien bin, denke ich viel an Peter. Ich denke daran, dass ihm das Internet, MP3, Technomusik und alles drumherum unheimlich gut gefallen hätte. Er wäre der erste gewesen mit Handy. Und er wäre ganz bestimmt ein richtig guter DJ geworden.

Posted by L9 at 20:00 | Comments (4)

Musikmaschinen

Gerade mal zurück aus Wien träume ich bereits von Indien. Bis es soweit ist, muß ich mit der Indian Shankar Drum Ganesh Machine vorlieb nehmen.

via Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Auch sehr genial: Der computergesteuerte epileptische Anfall.
Erwähnenswert: Die Rastafarai Babylon System Jah Machine

Posted by L9 at 10:15